Ein heißer Tanz in Fenerbahces Fußball-Hölle
Von Peter Heß
20. Oktober 2005
Fußball ist reiner Ergebnissport. Das sagt jedenfalls Christoph Daum, der Trainer von Fenerbahce, gezeichnet vom jahrelangen professionellen Druck, Resultate liefern zu müssen oder den Arbeitsplatz zu gefährden. Und auch viele Fans können an ein Spiel nur dann mit Genuß zurückblicken, wenn am Ende der 90 Minuten die Tore im richtigen Verhältnis gefallen sind. Für all jene war das 3:3 zwischen Fenerbahce Istanbul und Schalke 04 ein mittelmäßiges bis mittelprächtiges Vorrundenmatch der Champions League gewesen. Denn das Ergebnis gefährdet das Weiterkommen beider Teams ins Achtelfinale.
All jene aber, die bei einem Sonntagsspaziergang unwillkürlich stehenbleiben, weil sie am Wegesrand ein paar Kinder kicken sehen, all jene, die mit einem nachsichtigen Lächeln die Direktpaßversuche ihrer lokalen Bezirksklassenmannschaft verfolgen, all jene, die noch immer an das Verteidigertalent in Robert Huth glauben, empfanden es als Privileg, die Begegnung in voller Länge per Premieredecoder oder noch besser live im Istanbuler Stadion verfolgen zu dürfen.
Allein die Dramaturgie des Spiels kitzelte die Nerven. Schalke dominierte die erste Halbzeit, Fenerbahce erzielte durch Fabio das 1:0. Schalke begann die zweite Hälfte mit einem Sturmlauf, und Lincoln drehte innerhalb von zweieinhalb Minuten den Rückstand in ein 2:1 um. Nobre glich für die vermeintlich am Boden liegenden Türken aus. Kuranyi brachte die ins Zweifeln geratenen Schalker sofort wieder in Führung, Appiah gelang wiederum postwendend für Fenerbahce der Ausgleich. Drei Minuten vor Spielende sah der Istanbuler Alex die Gelb-Rote Karte, in der Nachspielzeit verpaßten Anelka für Fenerbahce und Kobiaschwili für Schalke den Siegtreffer nur knapp.
Stimmung wirkt wie Adrenalin
Aber mit dem Spielfilm erschließt sich die Dramatik des Abends nur zur Hälfte. Eine besondere Atmosphäre heizte die Profis an, heiß, brodelnd, blubbernd. Schon durch die Bestuhlung in zwei Farben ließ sich auf der einen Tribüne "Hölle" ablesen, daneben waren drei stilisierte Flammen dargestellt. Es ist in der Bundesliga üblich, daß Firmen eine riesige Flagge als Werbemedium nutzen und ein Transparent als vermeintlich integrierendes Hilfsmittel über dem Fanblock entrollen lassen. In Istanbul wurde jede der vier Tribünen vor dem Anpfiff mit einer überdimensionalen Fahne vollkommen eingehüllt - ohne Reklamebotschaft. Und die Fenerbahce-Fans hüpften nach der Aktion derart ekstatisch im Gleichtakt vor ihren Sitzen, daß die Resonanzschwingungen um die Betonkonstruktionen fürchten ließen.
Auf die Profis, vor allem die Schalker, wirkte die Stimmung wie Adrenalin. Aufgedreht, heißblütig, kein Risiko und keinen Kräfteverschleiß scheuend, beackerten sie das Spielfeld. Die abgeklärten Bordon, Krstajic, Kobiaschwili und Sand wurden einfach mitgerissen von den ungestümen Altintop, Rafinha, Poulsen und Larsen. Daß sie alle bei ihrem irrwitzigen Einsatz und Tempo Fehler mitproduzierten, nahm der zahlende Kunde auf der Tribüne gerne in Kauf.
Die Trainer trieb es fast in den Wahnsinn. Daum hätte als Tribünengast nach dem Abpfiff beiden Teams applaudiert: "Das Spiel war sein Eintrittsgeld zweimal wert. Aber als Trainer? O je, viel zu viele Fehler." Vor allem seine linke Abwehrseite wurde von den Schalkern Rafinha und Altintop immer wieder zerfleddert. Im Zentrum konnte niemand Lincoln widerstehen, als sich der Brasilianer wieder einmal zu einer genialen halben Stunde aufschwang. Und der Torwartfehler, der zum 3:2 durch Kuranyi führte, wird Volcan wohl noch jahrelang verfolgen - als Höhepunkt in Sendungen wie "Pleiten, Pech und Pannen". Der türkische Nationaltorwart säbelte über den Ball, als er einen Schalker Steilpaß abfangen wollte, und der deutsche Nationalstürmer konnte lässig mit dem Ball am Fuß über die Torlinie laufen.
Fußballschüler in Panik
Aber auch Daums Kollege Ralf Rangnick hatte Grund zum Hadern. Die Röte in seinem Gesicht war nicht nur aus Stolz über die Leistung seiner Spieler, sondern auch aus Ärger über Versäumnisse entstanden. "In den letzten drei Minuten hat keiner mehr seine Position gehalten und ist nach vorne gestürmt. Das mag für den Siegeswillen sprechen, aber es kann nicht sein, daß wir in Überzahl ausgekontert werden und beinahe noch den Punkt verlieren." Den individuellen Schalker Fauxpas des Abends hatte sich Hamit Altintop geleistet. Sein Querpaß von der Eckfahne in den eigenen Strafraum hatte etwas von Fußballschüler in Panik. Der türkische Nationalspieler der Königsblauen konnte sich bei seinem Torwart Rost bedanken, daß er seinen Fehler ausbügelte, indem er sich dem freistehenden Nobre vor die Füße warf.
Mit Altintop ging Rangnick milde ins Gericht: "Ich gehe davon aus, daß er sich so einen Paß so schnell nicht wieder leistet." Im Vergleich dazu fiel sein Kommentar zum zweimaligen Torschützen Lincoln geradezu harsch aus. "In der zweiten Halbzeit spielte er auf dem Niveau, wie wir ihn brauchen. In der ersten Halbzeit war er der Spieler, der noch am meisten Luft nach oben hatte. Ich forderte ihn in der Halbzeit auf, auch mal in den vierten und fünften Gang zu schalten und nicht nur in den ersten drei zu bleiben." Da soll wohl ein Spieler mit Tendenz zum Abheben auf dem Boden gehalten werden.
Mit welchen Mitteln auch immer es den Trainern gelingen mag: Das Rückspiel in zwei Wochen in Gelsenkirchen sollte am besten genauso großartig, fehlerhaft und aufregend wie der Klassiker in Istanbul verlaufen. Vielleicht ist das nicht in ihrem Sinne, auf jeden Fall im Sinne der Unterhaltungsindustrie Fußball.
Text: Frankfurter Allgemeine, 21. 10. 2005, Nr. 245 / Seite 38
Bildmaterial: dpa/dpaweb, AP, REUTERS
kaynak: FAZ